Ein Brief von Jonathan Edwards, adressiert an eine junge Dame im Jahre 1741
Meine liebe junge Freundin,
Da du mich gebeten hast, dir schriftlich einige Anweisungen zu geben, wie du dich in deinem christlichen Leben verhalten sollst, möchte ich deiner Bitte nun nachkommen. Die süße Erinnerung an die großen Dinge, die ich in letzter Zeit in deiner Gemeinde gesehen habe, veranlasst mich, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um zur geistlichen Freude und zum Gedeihen von Gottes Volk dort beizutragen.
- Ich möchte dir raten, dich im Christsein so sehr anzustrengen und ernsthaft zu bemühen, als ob du dich in einem natürlichen (Anmerkung: verlorenen) Zustand befändest und nach Bekehrung streben würdest. Wir raten den Menschen, die unter dem Urteil stehen, ernst und heftig für das Himmelreich zu sein; aber wenn sie die Bekehrung erlangt haben, sollten sie nicht weniger wachsam, fleißig und ernsthaft in der ganzen Arbeit des Christseins sein, sondern umso mehr; denn sie sind unter unendlich größeren Verpflichtungen. Aus Mangel daran haben viele Menschen in wenigen Monaten nach ihrer Bekehrung begonnen, ihren süßen und lebendigen Sinn für geistliche Dinge zu verlieren, und sind kalt und finster geworden, und haben sich „mit vielen Schmerzen durchbohrt“, während, wenn sie getan hätten, was der Apostel tat (Philipper 3,12-14), ihr Weg „wie ein strahlendes Licht, das immer mehr leuchtet bis zum vollkommenen Tag“ gewesen wäre.
- Lass nicht nach, nach denselben Dingen zu suchen, zu streben und zu beten, nach denen wir die Unbekehrten ermahnen, zu streben, und von denen du bei deiner Bekehrung bereits einen gewissen Grad erreicht hast. Bitte darum, dass deine Augen aufgetan werden, dass du sehend wirst, dass du dich selbst erkennst und zu Gottes Fußschemel gebracht wirst, dass du die Herrlichkeit Gottes und Christi siehst und die Liebe Christi in deinem Herzen ausgegossen wird. Diejenigen, die am meisten von diesen Dingen haben, müssen immer noch für sie beten; denn es gibt noch so viel Blindheit und Härte, Stolz und Verderbnis, dass sie immer noch das Werk Gottes brauchen, das an ihnen gewirkt wird, um sie weiter zu erleuchten und zu beleben, das sie mehr und mehr aus der Finsternis in Gottes wunderbares Licht bringt und eine Art neuer Bekehrung und Auferstehung von den Toten sein wird. Es gibt sehr wenige Bitten, die für einen unbußfertigen Menschen angemessen sind, die nicht auch in gewissem Sinne für einen frommen Menschen angemessen sind.
- Wenn du eine Predigt hörst, höre sie selbst. Auch wenn das, was gesagt wird, besonders an die Unbekehrten oder an diejenigen gerichtet ist, die sich in anderer Hinsicht in einer anderen Situation befinden als du selbst, sollst du vor allem überlegen: „Inwiefern trifft das auf mich zu, und was soll ich daraus für das Wohl meiner Seele machen?“
- Obwohl Gott dir deine vergangenen Sünden vergeben und vergessen hat, vergiss sie selbst nicht: Erinnere dich oft daran, was für ein elender Sklave du im Land Ägypten warst. Erinnere dich oft an deine besonderen Sünden vor deiner Bekehrung, so wie der gesegnete Apostel Paulus oft an seinen alten lästernden, verfolgenden Geist und seine Ungerechtigkeit gegenüber den Frommen denkt, sein Herz demütigt und anerkennt, dass er „der geringste der Apostel“ war und „nicht würdig, Apostel genannt zu werden“, und der „geringste aller Heiligen“ und der „größte der Sünder“. Und bekenne Gott oft deine alten Sünden und denke oft an diesen Text (Hesekiel 16,63), „damit du daran denkst und dich schämst und deinen Mund nicht mehr auftust wegen deiner Schande, wenn ich mich an dir versöhnt habe für alles, was du getan hast, spricht Gott der Herr.“
- Denke daran, dass du in manchen Fällen tausendmal mehr Grund hast, dich über die Sünden zu beklagen und zu demütigen, die du seit deiner Bekehrung begangen hast, als vorher; wegen der unendlich größeren Verpflichtungen, die auf dir lasten, vor Gott zu leben und auf die Treue Christi zu blicken, der trotz all deiner großen Unwürdigkeit seit deiner Bekehrung seine liebende Güte unveränderlich fortsetzt.
- Du sollst dich immer sehr erniedrigen wegen deiner verbliebenen Sünde und niemals denken, dass du dafür niedrig genug liegst; aber lass dich dennoch nicht entmutigen oder verzagen; denn wenn wir auch sehr sündig sind, so haben wir doch einen Beistand beim Vater, Jesus Christus, den Gerechten; die Kostbarkeit seines Blutes, das Verdienst seiner Gerechtigkeit und die Größe seiner Liebe und Treue übersteigen unendlich die höchsten Berge unserer Sünden!
- Wenn du das Gebet verrichtest, zum Abendmahl kommst oder irgendeine andere gottesdienstliche Handlung vollziehst – komm zu Christus, wie Maria Magdalena es tat! Komm und wirf dich zu seinen Füßen, küsse sie und gieße aus reinem und zerbrochenem Herzen die süße, duftende Salbe der göttlichen Liebe über ihn aus, so wie sie das kostbare Parfüm aus ihrem reinen, zerbrochenen Alabastergefäß ausgoss! „Und siehe, ⟨da war⟩ eine Frau in der Stadt, die eine Sünderin war; und als sie erfahren hatte, dass er in dem Haus des Pharisäers zu Tisch lag, brachte sie eine Alabasterflasche mit Salböl, trat von hinten an seine Füße heran, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen, und trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes. ⟨Dann⟩ küsste sie seine Füße und salbte sie mit dem Salböl.“ (Lukas 7,37-38)
- Denke daran, dass der Stolz die schlimmste Schlange im Herzen ist, der größte Störenfried des Seelenfriedens und der süßen Gemeinschaft mit Christus: Er war die erste Sünde, die begangen wurde, und liegt am tiefsten im Fundament von Satans ganzem Gebäude und ist nur mit größter Schwierigkeit auszurotten, und ist die verborgenste, heimlichste und trügerischste aller Lüste, und schleicht sich oft unbemerkt in die Mitte der Religion, manchmal sogar unter dem Deckmantel der Demut selbst. „Den Herrn zu fürchten heißt, das Böse zu hassen. Ich hasse hochmütigen Stolz, böses Verhalten und verkehrte Rede.“ (Sprüche 8,13)
- Damit du ein richtiges Urteil über dich selbst fällst, betrachte immer diejenigen als die besten Erkenntnisse und die besten Tröstungen, die am meisten von diesen beiden Wirkungen haben: diejenigen, die dich am geringsten und am niedrigsten und am meisten einem Kind gleich machen; und diejenigen, die dein Herz am meisten beschäftigen und festigen in einer vollen und festen Bereitschaft, dich für Gott zu verleugnen und für ihn zu verausgaben und verbraucht zu werden.
- Wenn du zu irgendeiner Zeit in Zweifel über den Zustand deiner Seele gerätst, in dunkle und trübe Gemütszustände, dann ist es richtig, deine vergangenen Erfahrungen zu überprüfen; aber verbrauche nicht zu viel Zeit und Kraft auf diese Weise. Widme dich lieber mit aller Kraft dem ernsthaften Streben nach neuen Erfahrungen, neuem Licht und neuen lebendigen Taten des Glaubens und der Liebe. Eine neue Erkenntnis der Herrlichkeit des Antlitzes Christi wird mehr dazu beitragen, die Wolken der Finsternis in einer Minute zu zerstreuen, als die Prüfung der alten Erfahrungen mit den besten Zeugnissen, die es gibt, in einem ganzen Jahr.
- Wenn die Ausübung der Gnade gering ist und die Verderbtheit vorherrscht und dadurch die Furcht vorherrscht, dann wünsche nicht, dass die Furcht auf andere Weise vertrieben wird, als durch die Wiederbelebung und das Vorherrschen der Liebe zu Gott im Herzen. Dadurch wird die Furcht wirksam vertrieben, wie die Dunkelheit in einem Raum verschwindet, wenn die angenehmen Strahlen der Sonne hineingelassen werden.
- Wenn du andere berätst und warnst, tue es ernsthaft, liebevoll und gründlich. Denke daran, dass du zu deinesgleichen sprichst – lass deine Warnungen mit Ausdrücken deines Gefühls der eigenen Unwürdigkeit und der souveränen Gnade vermischt sein, die dich anders macht.
- Wenn ihr selbst fromme Versammlungen junger Frauen einrichten würdet, die ab und zu neben den anderen Zusammenkünften, an denen ihr teilnehmt, besucht werden, würde ich denken, dass dies sehr angemessen und nützlich wäre.
- Bei besonderen Schwierigkeiten oder wenn du eine besondere Barmherzigkeit für dich oder andere brauchst oder dich danach sehnst – nimm dir einen Tag Zeit für heimliches Gebet und Fasten, allein für dich; und verbringe den Tag nicht nur mit der Bitte um die Barmherzigkeit, die du dir wünschst, sondern auch damit, dein Herz zu erforschen und dein bisheriges Leben zu betrachten und deine Sünden vor Gott zu bekennen – nicht so, wie es gewöhnlich im öffentlichen Gebet geschieht, sondern indem du vor Gott die Sünden deines bisherigen Lebens von deiner Kindheit bis jetzt, vor und nach der Bekehrung, mit den Umständen und Verschlimmerungen, die sie begleiteten, ganz besonders und so vollständig wie möglich vor ihm darlegst.
- Lass nicht zu, dass die Widersacher des Kreuzes Gelegenheit haben, die wahre Religion deinetwegen zu tadeln. Wie heilig sollen sich die Kinder Gottes, die Erlösten und Geliebten des Sohnes Gottes, benehmen! Darum „wandelt als Kinder des Lichts und des Tages“ und „schmückt die Lehre Gottes, eures Heilands“. Und vor allem, sei reich an dem, was man die christlichen Tugenden nennt, die dich dem Lamm Gottes ähnlich macht. So sei sanftmütig und demütig von Herzen und voll reiner, himmlischer und demütiger Liebe zu allen. Sei reich an Taten der Liebe zu anderen und der Selbstverleugnung für andere. Lass in dir die Bereitschaft sein, andere besser zu achten als dich selbst.
- In deinem ganzen täglichen Leben wandle mit Gott und folge Christus nach wie ein kleines, armes, hilfloses Kind, indem du die Hand Christi ergreifst, die Wundmale an seinen Händen und an seiner Seite im Auge behältst, von denen das Blut stammt, das dich von Sünden reinigt, und deine Blöße unter dem Rock des weißen, glänzenden Gewandes seiner Gerechtigkeit verbirgst.
- Bete viel für die Amtsträger und die Gemeinde Gottes, vor allem, dass er sein herrliches Werk, das er jetzt begonnen hat, fortsetzt, bis die Welt voll von seiner Herrlichkeit ist.
Insbesondere wünsche ich mir ein besonderes Interesse an deinen Gebeten und den Gebeten deiner christlichen Gefährten, sowohl wenn du allein bist als auch wenn ihr zusammen seid, für deinen liebevollen Freund, der sich über dich freut und dein Diener sein möchte.
In Jesus Christus,
Jonathan Edwards