„Um deines Namens willen, Herr, vergib mir meine Schuld, denn sie ist groß.“ – Psalm 25,11
Lehre: Wenn wir wirklich zu Gott kommen, um Barmherzigkeit zu erlangen, wird die Größe unserer Sünde kein Hindernis für die Vergebung sein… Folgende Dinge sind notwendig, damit wir wirklich zu Gott um Barmherzigkeit kommen:
Wir müssen unser Elend sehen und uns bewusst sein, dass wir der Barmherzigkeit bedürfen. Wer sich seines Elends nicht bewusst ist, kann Gott nicht wahrhaftig um Barmherzigkeit bitten; denn es ist der eigentliche Begriff der göttlichen Barmherzigkeit, dass sie die Güte und Gnade Gottes gegenüber den Elenden ist. Ohne Elend im Menschen kann es keine Ausübung von Barmherzigkeit geben. Die Annahme von Barmherzigkeit ohne Annahme von Elend oder Mitleid ohne Unglück ist ein Widerspruch. Deshalb können Mensch sich selbst nicht als geeignetes Objekt der Barmherzigkeit betrachten, wenn sie sich nicht zuerst als elend erkennen. Wenn dies nicht der Fall ist, ist es unmöglich, dass sie zu Gott um Erbarmen kommen. Sie müssen sich bewusst sein, dass sie Kinder des Zorns sind, dass das Gesetz gegen sie ist und dass sie dem Fluch des Gesetzes ausgesetzt sind; dass der Zorn Gottes auf ihnen lastet und dass er jeden Tag über sie zornig ist, solange sie unter der Schuld der Sünde stehen. Sie müssen sich bewusst sein, dass es eine sehr schreckliche Sache ist, das Objekt des Zorns Gottes zu sein, dass es eine sehr furchtbare Sache ist, ihn zum Feind zu haben, und dass sie seinen Zorn nicht ertragen können. Sie müssen begreifen, dass die Schuld der Sünde sie zu elenden Geschöpfen macht, ganz gleich, welche zeitlichen Freuden sie haben; dass sie nichts anderes sein können als elende, gescheiterte Geschöpfe, solange Gott über sie zornig ist; dass sie ohne Kraft sind und zugrunde gehen müssen, und zwar auf ewig, wenn Gott ihnen nicht hilft. Sie müssen sehen, dass ihr Fall völlig aussichtslos ist, für alles, was irgendjemand für sie tun kann; dass sie über dem Abgrund des ewigen Elends hängen und dass sie notwendigerweise hineinfallen müssen, wenn Gott sich nicht ihrer erbarmt…
- Die Barmherzigkeit Gottes ist für die Vergebung der größten Sünden ebenso ausreichend wie für die kleinsten, denn seine Barmherzigkeit ist unendlich. Das Unendliche steht ebenso sehr über dem Großen wie über dem Kleinen. Da Gott also unendlich groß ist, steht er über den Königen ebenso wie über den Bettlern. Er steht ebenso sehr über dem höchsten Engel wie über dem kleinsten Wurm. Ein unendliches Maß kommt dem Umfang des Unendlichen nicht näher als ein anderes. Da also die Barmherzigkeit Gottes unendlich ist, muss sie zur Vergebung aller Sünden ebenso ausreichend sein wie zur Vergebung einer einzigen…
- Dass die Genugtuung Christi für die Beseitigung der größten Schuld ebenso ausreichend ist wie für die geringste: „Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde“ (1. Jo. 1,7). „Und durch ihn werden alle, die glauben, von allem gerechtfertigt, wovon ihr durch das Gesetz des Mose nicht gerechtfertigt werden konntet“ (Apg. 13,39). Alle Sünden derer, die wahrhaftig zu Gott kommen, um Erbarmen zu erlangen, sind beglichen, wenn Gott wahr ist, der uns das sagt. Und wenn sie gesühnt sind, ist es nicht unglaublich, dass Gott bereit ist, sie zu vergeben. Nachdem also Christus für alle Sünden vollkommen gesühnt oder eine für alle ausreichende Genugtuung geleistet hat, ist es nun in keiner Weise mit der Herrlichkeit der göttlichen Eigenschaften unvereinbar, die größten Sünden derer zu vergeben, die in rechter Weise zu ihm kommen, um sie zu vergeben. Gott kann nun den größten Sündern verzeihen, ohne dass die Ehre seiner Heiligkeit beeinträchtigt wird. Die Heiligkeit Gottes lässt es nicht zu, dass er die Sünde auch nur im geringsten gutheißt, sondern veranlasst ihn, seinen Hass gegen sie in angemessener Weise zu bezeugen. Da aber Christus für die Sünde gesühnt hat, kann Gott nun den Sünder lieben und der Sünde überhaupt keine Beachtung schenken, wie groß der Sünder auch gewesen sein mag. Es war ein ausreichendes Zeugnis für Gottes Abscheu vor der Sünde, dass er seinen Zorn auf seinen eigenen lieben Sohn ausgoss, als er die Schuld auf sich nahm. Nichts kann Gottes Abscheu vor der Sünde mehr zeigen als dies…Gott kann durch Christus den größten Sünder begnadigen, ohne dass die Ehre seiner Majestät beeinträchtigt wird. Die Ehre der göttlichen Majestät erfordert in der Tat Genugtuung, aber die Leiden Christi stellen die Verletzung vollständig wieder her. Mag die Verachtung noch so groß sein, wenn eine so ehrwürdige Person wie Christus sich als Mittler für den Sünder einsetzt und so viel für ihn leidet, wird die Verletzung der Majestät des Himmels und der Erde vollständig wiedergutgemacht. Die Leiden Christi befriedigen die Gerechtigkeit vollständig. Die Gerechtigkeit Gottes als oberster Statthalter und Richter der Welt verlangt die Bestrafung der Sünde. Das Gesetz ist kein Hindernis für die Vergebung der größten Sünde, wenn die Menschen nur aufrichtig zu Gott um Erbarmen kommen; denn Christus hat das Gesetz erfüllt, er hat den Fluch des Gesetzes in seinen Leiden getragen. Christus hat uns von dem Fluch des Gesetzes erlöst, indem er für uns zum Fluch wurde; denn es steht geschrieben: „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt“ (Gal. 3,13).
- Christus wird sich nicht weigern, die größten Sünder zu retten, die in rechter Weise zu Gott um Erbarmen kommen; denn das ist sein Werk. Es ist seine Aufgabe, ein Retter der Sünder zu sein; es ist das Werk, zu dem er in die Welt gekommen ist, und deshalb wird er sich nicht dagegen wehren. Er ist nicht gekommen, um die Gerechten zu rufen, sondern die Sünder zur Buße (Mat. 9,13). Die Sünde ist das eigentliche Übel, zu dessen Beseitigung er in die Welt gekommen ist: Deshalb wird er nichts dagegen einwenden, dass ein Mensch sehr sündig ist. Je sündiger er ist, desto mehr braucht er Christus. Die Sündhaftigkeit des Menschen war der Grund dafür, dass Christus in die Welt kam… Der Arzt wird keinen Einwand dagegen erheben, einen Menschen zu heilen, der sich an ihn wendet, dass er seiner Hilfe sehr bedürftig ist…
- Darin besteht die Herrlichkeit der Gnade durch die Erlösung Christi hauptsächlich, nämlich in ihrer Genügsamkeit zur Vergebung der größten Sünder. Der ganze Heilsweg dient diesem Zweck: die freie Gnade Gottes zu verherrlichen. Gott hatte es von Ewigkeit her auf dem Herzen, diese Eigenschaft zu verherrlichen; und deshalb wurde der Plan, die Sünder durch Christus zu retten, erdacht. Die Größe der göttlichen Gnade zeigt sich vor allem darin, dass Gott durch Christus die größten Sünder rettet. Je größer die Schuld eines Sünders ist, desto herrlicher und wunderbarer ist die Gnade, die sich in seiner Begnadigung offenbart: „Wo die Sünde reichlich war, da war die Gnade noch viel reichlicher“ (Röm. 5,20)… Der Erlöser wird dadurch verherrlicht, dass er sich als ausreichend erweist, um die größten Sünder zu erlösen, dass sein Blut sich als ausreichend erweist, um die größte Schuld abzuwaschen, dass er fähig ist, die Menschen bis zum Äußersten zu retten, und dass er auch aus dem größten Elend erlöst. Es ist die Ehre Christi, die größten Sünder zu retten, wenn sie zu ihm kommen, so wie es die Ehre eines Arztes ist, dass er die schlimmsten Krankheiten oder Wunden heilt. Deshalb wird Christus ohne Zweifel bereit sein, die größten Sünder zu retten, wenn sie zu ihm kommen. Denn er wird nicht zögern, sich selbst zu verherrlichen und den Wert und die Tugend seines eigenen Blutes zu preisen. Da er sich selbst so hingegeben hat, um die Sünder zu erlösen, wird er nicht abgeneigt sein zu zeigen, dass er fähig ist, bis zum Äußersten zu erlösen … Wenn du nicht erkennst, dass Christus ausreicht, um dir zu vergeben, ohne dass du dich durch deine eigene Gerechtigkeit empfehlen kannst, wirst du niemals so weit kommen, dass du von ihm angenommen wirst. Der Weg, um angenommen zu werden, besteht darin, zu ihm zu kommen – nicht auf der Grundlage einer solchen Ermutigung, dass ihr euch jetzt besser und würdiger oder nicht mehr so unwürdig gemacht habt, sondern auf der Grundlage der bloßen Ermutigung, dass Christus würdig ist und dass Gott barmherzig ist.
Jonathan Edwards in “Great Guilt No Obstacle to the Pardon of the Returning Sinner”