„Es ist nicht von dem, der will, noch von dem, der läuft, sondern von Gott, der Barmherzigkeit erweist.“
Manche mögen das „Es ist nicht von dem, der will, noch von dem, der läuft, sondern von Gott, der Barmherzigkeit erweist“ (Römer 9,16), in diesem Sinne interpretieren, dass die Errettung aus beidem kommt, das heißt, sowohl aus dem menschlichen Willen als auch aus der Barmherzigkeit Gottes. In diesem Fall müssen wir den Vers: „Es ist nicht von dem, der da will, noch von dem, der da läuft, sondern von Gott, der sich erbarmt“, so verstehen, als ob er bedeute, dass der menschliche Wille allein nicht ausreicht, wenn nicht die Barmherzigkeit Gottes dazukommt. Aber dann würde daraus folgen, dass die Barmherzigkeit Gottes allein nicht ausreicht, es sei denn, der menschliche Wille geht mit ihr! Wenn wir also mit Recht sagen dürfen: „Es ist nicht des Menschen Wille, sondern Gottes Barmherzigkeit“, weil der menschliche Wille allein nicht ausreicht, warum dürfen wir es dann nicht auch mit Recht umgekehrt sagen: „Es ist nicht Gottes Barmherzigkeit, sondern des Menschen Wille“, weil die Barmherzigkeit Gottes allein nicht ausreicht? Gewiss, kein Christ wird es wagen, dies zu sagen: „Es ist nicht von Gott, der Barmherzigkeit zeigt, sondern vom Menschen, der will“, wenn er damit dem Apostel offen widerspricht!
Daraus folgt, dass die wahre Deutung des Verses: „Es ist nicht von dem, der will, noch von dem, der läuft, sondern von Gott, der Barmherzigkeit erweist“, darin besteht, dass das ganze Werk Gott gehört, der sowohl den menschlichen Willen rechtschaffen macht, als auch ihn auf diese Weise für seinen Beistand vorbereitet, und dann, wenn er vorbereitet ist, ihm beisteht. Denn die menschliche Willensgerechtigkeit geht vielen Gaben Gottes voraus, aber nicht allen; und sie muss selbst zu den Gaben gerechnet werden, denen sie nicht vorausgeht. Wir lesen in der Heiligen Schrift sowohl, dass Gottes Barmherzigkeit „mir entgegenkommt“ (Ps. 59,10), als auch, dass seine Barmherzigkeit „mir folgen wird“ (Ps. 23,6). Die Barmherzigkeit geht dem Unwilligen voraus, um ihn willig zu machen; sie folgt dem Willigen, um seinen Willen wirksam werden zu lassen.
Warum werden wir gelehrt, für unsere Feinde zu beten, die ganz offensichtlich nicht bereit sind, ein heiliges Leben zu führen, wenn nicht, damit Gott in ihnen Bereitschaft erzeugt? Und warum werden wir selbst gelehrt, zu bitten, um zu empfangen, wenn nicht, damit derjenige, der in uns den Wunsch erschaffen hat, selbst den Wunsch erfüllen kann? Wir beten also für unsere Feinde, damit die Barmherzigkeit Gottes vor ihnen hergeht, wie sie vor uns hergegangen ist; und wir beten für uns selbst, damit seine Barmherzigkeit uns folgt.
Auszug aus „Enchiridion: Being a Treatise on Faith, Hope and Love“ von Augustinus.